Zum Inhalt springen

UN Petition

Aufruf zur Rücknahme des Entscheids der Vereinten Nationen, die Untersuchung von Kriegsverbrechen in Tigray gemeinsam mit der äthiopischen Menschenrechtskommission durchzuführen 

Mit dieser Petition reagieren wir, deutsche Bürger und Bürgerinnen mit tigrayischen Hintergrund auf die jüngsten Entwicklungen bezüglich einer internationalen Untersuchung zu Verletzungen des internationalen Menschenrechts, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in der Region Tigray. Wir sind besorgt über die Reaktion der UNO- Hochkommissarin für Menschenrechte, Frau Bachelet, eine gemeinsame Untersuchung mit der staatlich geführten äthiopischen Menschenrechtskommission (EHRC) zu begrüßen. Eine solche Zusammenarbeit verstößt gegen grundlegende internationale Anforderungen und Richtlinien, da die EHRC nicht die grundlegenden Kriterien erfüllt, um solche Untersuchungen fair durchzuführen.

Tigray erträgt nun seit fünf Monaten einen unerbittlichen Krieg, der verheerendes menschliches Leid verursacht. Immer mehr Berichte zeigen massive Menschenrechtsverletzungen und völkermörderische Handlungen in Tigray, so wie außergerichtliche Tötungen und der Einsatz von Hunger und Vergewaltigungen an Frauen und Kindern als Kriegswaffe. Die strafrechtliche Verfolgung für Kriegsverbrechen ist ein grundlegender Aspekt des Rechts der Opfer auf Gerechtigkeit. Um im Interesse der Opfer zu handeln, muss die untersuchende Stelle grundlegende internationale Anforderungen und Richtlinien zur Ermittlung befolgen. Anforderungen sind Unabhängigkeit, Integrität, Unparteilichkeit, Unbefangenheit, Transparenz und Effektivität. 

In den vergangenen fünf Monaten hat die EHRC mehrfach ihre Unfähigkeit, Befangenheit, sowie ihren Unwillen demonstriert, einen glaubwürdigen Weg zur Aufarbeitung von Vorwürfen über schwere Menschenrechtsverletzungen in Tigray und anderen Teilen Äthiopiens einzuschlagen. Da die EHRC die oben genannten Kriterien nicht erfüllt, ist sie kein glaubwürdiger Partner, um eine Untersuchung der mutmasslichen Verbrechen in Tigray durchzuführen: 

  1. EHRC-Mitarbeiter sind für solche Ermittlungen nicht ausreichend geschult, ausgestattet und finanziert

In Bezug auf besondere Gefährdungen in bewaffneten Konflikten, wie z.B. für Fälle von mutmaßlicher sexueller Gewalt, Folter oder Vorfälle, bei denen Kinder Opfer, Zeugen oder Verdächtige gewesen sein könnten, müssen spezielle Fachkenntnisse gewährleistet sein. Auch müssen bei unverhältnismäßiger Gewalt oder Misshandlungen unabhängige, unmittelbare, unverzügliche und umfassende Untersuchungen durchgeführt werden. Amnesty International (AI) stellte jedoch fest, dass es der staatlich geführten EHRC nicht nur „an qualifizierten und erfahrenen Mitarbeitern“ fehle, sondern auch an „Autonomie“ mangle, was der vorausgesetzten Forderung nach Gründlichkeit, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit bei strafrechtlichen Untersuchungen widerspricht. In sieben öffentlich zugänglichen Berichten der EHRC fand AI eklatante Lücken in den Methoden, mit denen Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen untersucht und gemeldet werden. AI schreibt auch, dass «die Berichte des EHRC nicht den international anerkannten Standards für Methodik und Unbefangenheit entsprachen.» 

  1. Fehlende Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Glaubwürdigkeit der EHRC und von Kommissar Daniel Bekele

Gemäss dem Prinzip der Unparteilichkeit darf eine Ermittlungsbehörde wie die EHRC weder eine persönliche Voreingenommenheit noch einen Interessenkonflikt in Bezug auf den vorliegenden Fall haben. Die Untersuchungsbehörde muss auch in der Lage sein, eine Ermittlung ohne Beeinflussung anderer, sowie ohne Angst vor Repressalien oder Erwartung zugunsten anderer Institutionen ausüben zu können. Die EHRC ist jedoch in einem Interessenskonflikt, da ein Teil der EHRC von der Regierung Abiy Ahmeds finanziert wird.  Somit kann diese nicht unbefangen ermitteln, wenn mutmaßliche Menschenrechtsverstöße neben amharischen Milizen und eritreischen Streitkräften auch äthiopischen Soldaten vorgeworfen werden. AI stellte in einem Bericht aus dem Jahr 2019 fest, dass es «der EHRC an Unabhängigkeit mangelt und sie eher den Interessen der Regierung dient, als dass sie Rechenschaft über Missstände ablegt.». 

Der staatlich ernannte EHRC-Chefkommissar Daniel Bekele hat seine parteiische Haltung zu diesem Krieg bei mehreren Gelegenheiten bewiesen. Zum Beispiel spielte er während des von der äthiopischen Botschaft in Genf organisierten Pressebriefings das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen in Tigray kategorisch herunter. Anfang Januar 2021 verkündete der Kommissar, dass die „Operation nicht zu so schwerwiegenden Konsequenzen geführt hat, wie ursprünglich befürchtet“. Bekele hat auch auf subtile Weise Lobbyarbeit für die äthiopische Regierung betrieben, indem er das gleiche Narrativ zum Konflikt der Regierung von Abiy Ahmed verwendete. Diese Befangenheit, der Mangel an Glaubwürdigkeit und die politische Prädisposition zu dem Konflikt werden eine unparteiische und effektive Untersuchung in Tigray und anderswo in Äthiopien nicht gewährleisten und die Straflosigkeit vor Menschenrechtsverstößen nicht beenden. Dieses Schema der Verschleierung von Menschenrechtsverletzungen wird zusätzlich durch den ständigen Einfluss der äthiopischen Regierung aufrechterhalten und gefördert. Damit dient die EHRC als institutionelles Instrument, um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit herunterzuspielen oder gar zu vertuschen. Angesichts des ethnischen Charakters des Krieges können die Mitarbeiter des EHRC, von denen die meisten aus der Amhara Region stammen, die schweren Menschenrechtsverletzungen und ethnischen Säuberungen, die von Amhara-Milizen in Süd- und West-Tigray mutmasslich begangen wurden, nicht unbefangen untersuchen.

In einem von EHRC veröffentlichten Bericht wird beispielsweise der vom Amhara-Regionalstaat eingesetzte Verwalter von Dansha (Bezirk in West-Tigray) mit den Worten zitiert: „Die Tigrayer leben friedlich in der Gegend, aber diejenigen Bewohner, die sich gefährdet fühlten, wurden mit Transportmitteln zu Zielen ihrer Wünsche weggebracht“. Dies ist ein klares Beispiel dafür, dass die EHRC es vermeidet, ethnische Säuberungen in West-Tigray zu benennen und zuzugeben. Es ist anzumerken, dass es für die betroffenen Tigrayer kein Ziel ihrer Wünsche ausserhalb ihrer eigenen Heimat gibt. Darüber hinaus haben das US-Außenministerium und viele andere Institutionen wiederholt erklärt, dass in West-Tigray massive ethnische Säuberungen gegen Angehörige der Tigray stattfinden, indem sie von Amhara-Milizen entweder massakriert oder zur Flucht gezwungen und sie ihrer Häuser und Grundstücke enteignet werden. Leider ist die EHRC weit davon entfernt, über die Realität zu berichten, so dass man ihr nicht zutrauen kann, weitere Untersuchungen in diesen komplexen, ethnisch sensiblen und groß angelegten Völkermorden an Tigrayern durchzuführen.

3. Keine unverzüglichen, unmittelbaren und umfassenden Untersuchungen

Sowohl der äthiopische Staat als auch Daniel Bekele waren mehrfach nicht bereit, zeitnah Ermittlungen zu eröffnen. Obwohl die EHRC täglich über die Berichte von sexueller Gewalt, Plünderungen, Zerstörung von Eigentum und außergerichtlichen Tötungen in Tigray sowie Massaker in verschiedenen Teilen von Tigray informiert wurden, führten diese keine unverzüglichen Ermittlungen durch. Aufkommende Berichte von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch (HRW), Ärzte ohne Grenzen (MSF), AI sowie internationaler Medien wie CNN und BBC über Kriegsverbrechen führten offensichtlich zu keiner Verpflichtung, eine unmittelbare und umfassende Untersuchung dieser Angelegenheiten einzuleiten. 

Darüber hinaus wurden Berichte von internationalen NGOs nicht nur von der EHRC ignoriert, sondern auch als falsch bzw. vorgetäuscht bezeichnet. Diese Vorgehensweise und Arbeitsmoral der EHRC wurde auch schon in einem früheren Bericht von AI kritisiert. In diesem steht, dass die EHRC, anstatt gründlich zu ermitteln und angebliche Missbräuche durch die Sicherheitskräfte aufzudecken, „schnell dabei war, andere Akteure zu beschuldigen“. Beispiele für eine solche Arbeitsmoral, die etablierte internationale Standards bei solchen Untersuchungen außer Acht lässt, finden sich im Bericht über das Mai Kadra-Massaker. Daniel Bekeles schnelle Berichterstattung und Dokumentation von Mai Kadra ist voller klaffender Löcher und begünstigt klar eine Seite der Konfliktparteien. Das Massaker in Mai Kadra braucht dringend eine unabhängige Untersuchungsinstanz, jedoch lässt die äthiopische Regierung eine solche bis heute nicht zu.

Aufgrund der Ineffektivität und mangelnden Unabhängigkeit bei der Bearbeitung von Vorwürfen ist es daher zwingend erforderlich, dass eine Untersuchungskommission eingerichtet wird, die eine unabhängige, unparteiische, gründliche und effektive Untersuchung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in Tigray durchführt. Die Vorwürfe müssen ernsthaft, transparent, gründlich und unbefangen untersucht werden, da es sich die Opfer des Missbrauchs in Tigray nicht leisten können, noch länger auf eine glaubwürdige Ermittlung der mutmasslichen schweren Verstöße zu warten. 

Wir sind der festen Überzeugung, dass nur eine UN-mandatierte Untersuchung – ohne Beteiligung von und Zusammenarbeit mit der EHRC – ein glaubwürdiger erster Schritt auf dem Weg zur Friedensstiftung in Äthiopien ist. Daher bitten wir um:

  1. die Pläne und Vorbereitungen für eine gemeinsame Untersuchung der Gräueltaten in Tigray mit der EHRC zu überdenken und rückgängig zu machen.
  2. dringend eine UN-mandatierte Kommission zur Untersuchung der schweren Verbrechen in Tigray einzusetzen. Wir glauben, dass alles, was nicht dazu führt, nicht zu Gerechtigkeit und Versöhnung führen wird und am Ende mehr schaden als nützen könnte. 

Wir verurteilen die Entscheidung einer gemeinsamen Untersuchung aufs Schärfste und fordern, eine UN-mandatierte Untersuchung der Gräueltaten in Tigray zu genehmigen, um ein starkes Engagement für den Schutz der Menschenrechte und der Gerechtigkeit in Tigray durch die Durchführung einer unabhängigen, unparteiischen, effektiven und sofortigen Untersuchung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in der Region Tigray durchzusetzen. 

Außerdem können Zeugen und Überlebende nur dann frei und selbstbewusst sprechen, wenn sie wissen, dass die Ermittler neutral sind. Sie werden zu Recht Angst vor Repressalien haben, wenn sie mit den Mitarbeitern der EHRC sprechen. Ihre Namen und Identitäten könnten bei den Regierungstruppen oder dem Sicherheitsapparat landen, da die EHRC derselben Regierung angehört und von ihr finanziert wird.

Konkrete Maßnahmen des Menschenrechtsrates und der UN-Menschenrechtsgremien werden nicht nur der äthiopischen Regierung und der EHRC signalisieren, dass anhaltende Straflosigkeit und Misshandlungen nicht akzeptabel sind, sondern auch den Überlebenden bestätigen, dass die Vereinten Nationen sich dafür einsetzen, Gerechtigkeit für die schweren Menschenrechtsverletzungen zu erlangen, die sie erlebt haben und für den Rest ihres Lebens erleben werden.

de_DE_formalGerman